Der letzte Schnitt
Genre: Steampunk
Charakter: Anthony Allard
Produkt: Razorblade
Autor: Fatmanboom
Dieses Messer wird uns eines Tages reich machen – Wenn er sich auch nicht besonders gut an seinen alten Herren erinnerte, dieser eine Satz war ihm in Erinnerung geblieben. Er rief Bilder hervor, wie lebhafte kleine Daumenkinos, gezeichnet von einem jüngeren, unbeschwerteren Ich. Ein heruntergekommener Drehstuhl in einem heruntergekommenen Barbiersalon in einer heruntergekommenen Stadt. Und das aufrichtige, herzensgute Lächeln seines Vaters, dessen Geschicklichkeit mit dem Rasiermesser bis weit über die Grenzen des Viertels hinaus bekannt gewesen war.
‚Allard’s Salon für den richtigen Schnitt‘ stand damals auf dem Schild. Auf Hochglanz poliert, jeden Samstagmorgen um sechs. Draußen, zur Hauptstraße hin, wo der kleine Anthony oft spielte, bis endlich der letzte Kunde gegangen war. Und wo er auch zufällig an diesem einen Tag stand, als das Schaufenster zerbarst und ein schier endloser Strom aus Blei den kleinen Salon zerfetzte, das polierte Schild davor und alles wichtige darin.
Besonders wichtig war für die Zeitung später im Bericht ein Medienfunktionär, der zwielichtige Beziehungen zum organisierten Verbrechen unterhielt und der nun beim wöchentlichen Rasurtermin von eben diesen Gangstern zur Zahlung gebeten worden war – in Form seines Lebens.
Nicht wichtig genug für die Erwähnung hingegen war ein kleiner, fleißiger Mann mit tiefen Lachfalten, der weinend in den Scherben seiner Existenz verstarb und seiner Familie kaum mehr hinterließ, als das abgegriffene Rasiermesser, das er bis zur letzten Sekunde seines Lebens in der Hand gehalten hatte.
Der soziale Abstieg ging schnell in Zeiten wie diesen. Eiskalte Werkshallen, voll mit hunderten, rußverschmierten Lohnarbeitern und im Himmel darüber riesige Zeppeline, die Millionen kosteten, nur um wenige Dutzend zu tragen. Anthonys Familie war nicht viel mehr als der Schutt verblieben, der einmal ein Barbiersalon gewesen war. Und über den Rest hatten sich die Gläubiger hergemacht, wie Krähen über ein verwesendes Kalb. Seine Mutter hatte ihr Möglichstes versucht, doch die Optionen für eine verwitwete Einwanderin mit Kind waren damals wie heute begrenzt. Wie sie es trotzdem geschafft hatte, regelmäßig ein warmes Essen auf den Tisch zu bringen, wusste er bis heute nicht. Und das Naheliegende zu vermuten weigerte er sich, obwohl sie bereits ein Jahr später in einer verrottenden Seitengasse auf dem Tisch einer Engelsmacherin ausgeblutet war.
„Schnitt! Mehr Blut!“, brüllte Harald von Hammerstein von seinem ächzenden Regiestuhl aus in seine Flüstertüte. „Wo ist das Schwein?!“
Anthony riss sich aus seinen Gedanken. Mit Schwein war er gemeint. Eine abwertende Bezeichnung für das, was an diesem Filmset seine Aufgabe war. Einen Eimer Schweineblut dort hin zu bringen, wo er gebraucht wurde und dafür zu sorgen, dass er immer gefüllt war. Er sprang von seinem Stuhl auf und wuchtete den Eimer mit beiden Händen hoch, wobei eine Wolke aus grünlich glänzenden Fliegen empor fegte. Obwohl er sehr vorsichtig darauf bedacht war, nichts zu verschütten, war dies am Ende immer ein sinnloses Unterfangen. Das schiere Gewicht, die Füllhöhe und der sandige, unebene Boden spielten auf eine so unkontrollierbare Weise zusammen, dass zumindest eine kleine, rote Dusche garantiert war. Wie auf Kommando schwappte ihm die klebrige, stinkende Suppe sofort über die Brust, auf die Hose und unter die dicke Lederschürze, die er einzig zu dem Zeck trug, hinten im Stall für Nachschub zu sorgen. Anthony hielt die Luft an, um sich nicht sofort zu übergeben. Unter dem unbarmherzigen Bombardement der Mittagssonne hievte das Schwein die unabdingbare Requisite auf die Szene zu, die gerade gedreht wurde.
Der neuste Meisterstreich von Starfilmemacher Harald von Hammerstein spielte irgendwo in einer Wüste und es ging darin um irgendeine berühmte Expedition in eine Grabstätte. Und um Zombies. Und mehr interessierte ihn auch nicht, da es bereits alles erklärte, was ihm gerade das Leben schwer machte. Sand, Sonne, Blut und verwöhnte kleine Wichser, deren Wert darin lag, dass ihr Name möglichst groß auf irgendwelchen Plakaten stand. In diesem Moment standen sie ihm vor Allem im Weg.
„‘zeihung“, presste Anthony hervor und versuchte gleichzeitig, das Momentum seiner Vorwärtsbewegung nicht zu verlieren und um die Gruppe an Schauspielern herum zu navigieren, die gelangweilt am Rand der Szene lungerte und auf ihren Einsatz wartete.
„Harald, das war so nicht vereinbart!“ Der hagere Fatzke im Scheinwerferlicht hob das Kinn und verschränkte die Arme.
„In meinem Vertrag steht ganz klar, dass meine äußere Erscheinung makellos zu sein hat! Was du mir hier zumutest“, er deutete auf eine paar kleinere Blutflecken in seinem Gesicht und einen handtellergroßen Klecks auf seiner sandfarbenen Expeditionsweste, „ist skandalös! Und wenn dieses Schwein dort mir auch nur einen Schritt zu Nahe kommt, dann war es das!“
„Nochmal. Es muss übertrieben sein, Phillipe“, grollte der Regisseur ungeduldig. „Du bist der Held. Du hast dich gerade durch ein Meer an Zombies gehackt. Du kannst nicht komplett sauber sein.“
„Das ist mir scheißegal, Harald. Wenn ich auch nur einen Tropfen aus diesem widerlichen Eimer abbekomme, bist du deinen Hauptdarsteller los! Wir machen das genau so oder gar nicht.“
Anthony grunzte angestrengt, während er auf den Ausgang der Diskussion wartete, den Eimer noch immer vor der Brust und die Fliegen im Gesicht.
Der Regisseur stand ungelenk auf, bevor er die Stimme senkte und dem Schauspieler einen bedrohlichen Blick zuwarf. „Willst du mir drohen?“
„Ich will nicht, aber anscheinend muss ich das! Was nützt es mir, wenn ich als strahlender Held aus dem Kampf hervorkomme und niemand mein Gesicht mehr erkennen kann, weil es unter einer Kruste aus Unrat verborgen ist? Es könnte genau so gut das Schwein da sein!“
Harald von Hammerstein hielt inne. „Sag das nochmal.“
„Ja, schau ihn dir doch an, von den Haaren bis zu den Schuhsohlen komplett mit dieser Plörre bedeckt. Gesicht, Kleidung, Statur. Darunter könnte jeder stecken! Dein Drecksfilm könnte mich meine Karriere kosten!“
„Du hast recht, Phillipe. Wenn wir die Szene so drehen, wie ich es mir vorstelle, könnte darunter jeder stecken“, wiederholte der Regisseur nachdenklich. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Du bist gefeuert.“
„Wie bitte?“, japste der Schauspieler verdutzt.
„Du hast richtig gehört. Verschwinde von meinem Set!“, bellte der Regisseur und fixierte seinen Blick auf den schwankenden jungen Mann, der mit der Schwerkraft und einem randvoll gefüllten Eimer Schweineblut kämpfte. „Du da. Wie heißt du?“
„Anthony“, grunzte der junge Mann zurück.
„Herzlichen Glückwunsch Anthony. Heute ist dein Glückstag. Würdest du dir noch ein wenig mehr Blut ins Gesicht werfen, wenn ich dir sage, dass du damit mein neuer Filmstar wirst?“
Die umstehende Menge hatte keine Zeit mehr, der unvermeidlichen Sauerei auszuweichen, als das ehemalige Schwein den faulenden Eimer ohne eine Sekunde zu zögern über den Kopf wuchtete und in einem in alle Richtungen spritzenden Schwall über sich ausleerte.
Razorblade
Von der Rasur bis zum letzten Schnitt – das Rasiermesser begleitet Ihren Charakter durch jede Situation.
„Weißt du, Anthony“, sinnierte Harald von Hammerstein und drehte seinen braunen Lederstuhl in Richtung eines kleinen Spirituosenschranks neben seinem wuchtigen Schreibtisch aus Mahagony. „Dass meine letzten Filme so ein Erfolg werden konnten, verdanke ich zu einem gewissen Teil dir. Die Leute lieben Geschichten über den Europäischen Traum. Vom Kohleschaufler in den Dampfkraftwerken der Industriedistrikte zum großen Leinwandhelden. Aber eines musst du verstehen. Die Leute lieben dich für deine Geschichte. Und mich für das Happy End. Deine Geschichte gibt es zu Millionen da draußen. Mein Happy End gibt es nur ein mal.“
Der Regisseur schenkte sich zwei Finger breit Rum in ein eckiges Kristallglas und wandte sich seinem Gesprächspartner wieder zu. Er senkte den Kopf und starrte sein Gegenüber eindringlich durch die Augenbrauen an. „Also sei vorsichtig.“
Anthony spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Seine zitternden Hände steckten vorsorglich in den Taschen seiner braunen Lederweste, wo eine davon fahrig mit dem alten Rasiermesser seines Vaters spielte.
„Sie schulden mir mein Geld, Herr von Hammerstein“, brachte er schließlich leiernd hervor. „Vier Filme und ich habe noch keinen Schilling davon gesehen. Wovon soll ich leben?“
Der Knall von Hammersteins Faust ließ ihn zusammenfahren und brachte den Schreibtisch zum beben. Rum spritzte über den Glasrand und landete auf der Tischplatte.
„Unfassbar! Habe ich nicht immer für dich gesorgt? Ich habe dir immer eine Chance gegeben, dich zum aufstrebenden Star gemacht! Undankbar bist du! Du solltest dich schämen! Jedes Stück Stoff an dir, wer hat das bezahlt?“
„Das waren Sie, aber -“
„Wer hat dich gefüttert, wem verdankst du das Fett auf deinen Rippen?“
„Ihnen, aber -“
„Und jetzt stehst du hier vor mir und verlangst noch mehr. Immer mehr, mehr, mehr. Peinlich ist das! Aber keine Sorge, wenn du mehr willst, dann nimm. Hier.“ Hammerstein sprang auf, polterte zu dem massiven Safe, der in der Raumecke stand und drehte das Coderad drei Mal. Achtundvierzig, zwölf, dreißig. Dann öffnete er die massige Tür mit einer Drehung der Klinke. Er hob ein Bündel Geldscheine von einem der aufgetürmten Stapel darin heraus und warf es verächtlich quer durch den Raum gegen Anthonys Brust. Ein Regen aus Geldnoten segelte zu Boden. „Aber sei dir über eines im Klaren. Wenn du auch nur einen Schein davon aufhebst, sind wir fertig. Dann will ich deine Visage nie wieder sehen. Und ich werde auch dafür sorgen, dass du in diesem Land nirgendwo wieder einen Job findest. Nicht einmal mehr als Schwein.“
Anthony verharrte reglos. Wie viel Geld mochte dort liegen? Zweitausend Schilling? Mehr? Genug um ein paar Monate relativ sorgenfrei zu leben. Und danach? Er bewegte keinen Muskel. Eine Minute verrann. Zwei. Drei Minuten, in denen sich die beiden angespannt anstarrten. Schließlich entspannte sich Hammerstein wieder, schloss die Tür zum Safe, ging zurück zum Schreibtisch und nahm einen großen Schluck Rum.
„Du bist ein guter Junge, Anthony. Aber du enttäuscht mich. Ich weiß nicht, ob ich dir weiterhin so vertrauen kann, wie vorher. Kann ich dir vertrauen, Anthony?“
Anthony presste seinen Zorn herunter, wie schon unzählige Male zuvor in seinem Leben. „Ja, das können sie.“
„Das sagst du jetzt.“ Noch ein Schluck. „Aber du musst es mir beweisen. Komm mit, ich will dir jemanden vorstellen.“
Hammerstein führte den jungen Schauspielanwärter den Flur entlang und in den Salon. An einem Billardtisch vergnügten sich gerade ein paar junge Schauspielerinnen, die begierig auf die Gelegenheit warteten, den Starregisseur von ihren Qualitäten zu überzeugen. Als sie die beiden erblickten, ließen sie buchstäblich alles stehen und liegen und umschwärmten den Geldsack wie die Fliegen einen Eimer Blut. Hammerstein wechselte zu Anthonys erstaunen ohne Übergang in die Rolle des gesprächigen, wohlwollenden Gastgebers, verschenkte Komplimente und ließ auch die eine oder andere Hand wandern, wofür er künstliches Gekicher erntete. Anthony hingegen musste abschätzige Blicke erdulden, wie kleine, scharfe Messer, die auf seinen Hals zielten. Willkommen im Showgeschäft.
Eine Gestalt fiel ihm dennoch sofort auf, denn sie stach heraus, wie ein Fleck auf einem blütenweißen Hemd. Allein, wie sie an der Bar stand, war ungewöhnlich. Angelehnt, aber nicht abgestützt. Entspannt, aber wachsam. Die Kleidung war abgenutzt, aber nicht dort, wo sich ein Arbeiter ein Loch wetzt, sondern an diesen ganz speziellen Stellen, an denen ein verstecktes Messer von innen durchsticht, oder an denen ein Gewehr beim Sitzen den Stoff abschrammt. Anthony war sich sicher – dort stand ein Gangster.
„Ich darf euch beide bekannt machen? Cheesecake, das ist Anthony. Anthony, dieser nette Herr hier ist Cheesecake.“
Der Gangster führte die Hand zum Gruß an seine Mütze und kaute weiter auf einem Stück Tabakholz herum, wobei er den jungen Schauspieler von oben bis unten beäugte. Es war nicht schwer herzuleiten, woher der Mann seinen markanten Namen hatte. Der Teil seines Gesichts, der nicht von grauen, zotteligen Haaren bedeckt war, war über und über von Pockennarben zerfurcht. Dafür konnte wirklich niemand etwas, trotzdem bekam man seinen Namen auf der Straße schnell.
Anthony nickte grüßend zurück. Er war von der Straße. Ein Handschlag war dort etwas besonderes, für Verträge, für Bündnisse, für Brüder. Ein Gruß hatte nur etwas mit dem erwarteten Minimum an Respekt zu tun. Nicht mehr, nicht weniger.
„Ich habe da einen Job zu erledigen. Und du, mein Junge, bist ein wichtiger Teil davon“, erklärte Hammerstein.
„Und welche Rolle spielt der da?“, fragte Anthony zurück und nickte mit dem Kinn zu Cheesecake.
„Ich seh’ zu, dass der Job erledigt wird“, entgegnete der Gangster und funkelte ihn böse an.
Hammerstein rollte mit den Augen. „Es ist mir egal, wie ihr es macht, es muss nicht schön sein. Eigentlich ist es besser, wenn es nicht schön ist. Ich will das Problem gelöst haben. So schnell es geht.“
„Schon klar, Boss“, seufzte Cheesecake, trank den letzten Schluck aus seinem Glas und wandte sich gelangweilt zum Gehen. „Komm mit, kleiner. Besser jetzt als später. Dann ham wir es hinter uns.“
„Geh schon mal vor, ich will noch kurz ein paar Dinge klarstellen“, raunte Hammerstein. Der Gangster schnaubte entnervt, steckte die Hände in die Hosentaschen und schlurfte die Stufen ins Foyer hinab.
„Ich will nur, dass du eines weißt, Anthony. Geschäft ist Geschäft und Vertrauen ist die wichtigste Währung. Du weißt nie, mit welcher Absicht jemand hinter dir steht. Ich hoffe du verstehst mich.“
„Ich verstehe schon“, flüsterte Anthony.
„Sehr gut. Hey Barkeeper. Einen Whiskey auf meinen kleinen Filmstar hier. Trink noch in Ruhe aus und genieße den Drink. Der Job wartet auf dich, aber ohne dich geht es nicht los.“
Hammerstein klopfte ihm zwei Mal fest auf die Schulter, bevor er sich wieder den Damen am Billardtisch widmete. „Meine Damen, was halten Sie von einem Gruppenfoto? Ich habe hier das allerneuste Modell! Können sie sich vorstellen, es arbeitet mit einem eingebauten Blitz und vollkommen ohne Pulver, es lebe der Fortschritt!“
Anthony trank langsam sein Glas leer, während er noch einige Minuten über den Spiegel an der Rückwand der Bar mitverfolgte, wie Harald von Hammerstein ein Rudel kichernder Schauspielanwärterinnen ablichtete. Dann würgte er mit einem Schluck den Rest des Whiskeys herunter. Zeit für den Job.
Die Dampfkutsche der Marke Grebner & Söhne wackelte hustend die Hauptstraße entlang. Sie waren zu zweit im Fahrgastraum, räumlich getrennt vom Fahrer, wie bei älteren Modellen üblich. Cheesecake saß ihm gegenüber, immer noch die gleiche Tabakstange im Mundwinkel und ein Maschinengewehr mit Trommelmagazin über dem Schoß.
„Kann ich auch?“, fragte Anthony in die rumpelnde Stille hinein.
„Auch was?“, entgegnete Cheesecake genervt.
„Tabakholz“, präzisierte Anthony seine Frage.
Cheesecake zögerte einen kurzen Augenblick, dann stöhnte er resigniert auf und reichte ihm eine kleine, flache Blechdose. „Was soll’s. Hier, nimm eins.“
Anthony fischte eines der kleinen Hölzer heraus, roch daran und schabte dann ein kleines Stück Rinde am Rand der Dose ab, bevor er es in den Mundwinkel steckte. Der Gangster zog kurz überrascht die Augenbrauen hoch, dann steckte er die Dose wieder in die Manteltasche.
„Und die Knarre?“, fragte Anthony herausfordernd.
„Die bekommste nicht.“
„Hab noch nie eine in der Hand gehabt.“
„Dein Problem.“
„Nur mal sehen.“
„Schnauze.“
„Ich denke ich soll den Job machen. Da werd ich mir das Ding doch wenigstens mal ansehen dürfen.“
„Das ist der Abzug, den drückt man. Ende. Siehste schon früh genug“, seufzte der Gangster.
Eine Minuten fuhren sie einfach so weiter, da zog Cheesecake plötzlich das Trommelmagazin heraus, prüfte kurz ob sich eine Kugel im Lauf befand und reichte Anthony das leere Gewehr. „Hier. Jetzt kannste schauen.“
Überrascht nahm Anthony das MG entgegen und beäugte es interessiert. Er drehte es ein paar Mal herum, legte es kurz an und blickte ein mal in den Lauf.
„Da willste nicht reinschauen, glaub mir“, kommentierte der Gangster und rupfte ihm das Gewehr ungestüm aus den Händen. „Ist kein Spielzeug.“
„Was ist jetzt eigentlich genau unser Job?“, benannte Anthony endlich den Elefanten im Raum.
„Der Boss will jemanden aus dem Weg haben. Keine große Nummer.“
„Kommt das häufiger vor?“
„Nicht häufig, aber auch nicht selten. Vielleicht einmal alle zwei Jahre. Eher weniger.“ Die Kutsche hielt an und der Fahrer klopfte drei Mal an die Seitenwand. „Wir sind da. Los, steig aus.“
Es war bereits dunkel und die Straßenlichter reflektierten grell vom regennassen Pflaster. Sie standen direkt vor der Tür eines dunklen, geschlossenen, kleinen Ladengeschäfts, mit einem großen Schaufenster und einer kleinen Treppe daneben, die zu einer kleinen Tür führte. Anthony folgte dem Gangster hinein und fand sich in einem Barbiersalon wieder. Er kannte diesen Ort.
„Und? Was sagst du?“, fragte Cheesecake amüsiert und richtete das MG auf den jungen Schauspieler. „Was für eine perfekte Kulisse.“
Anthony hob erschrocken die Hände. „Hey, was soll das?“
„Komm schon, kleiner. Dein Name war doch schon in der ganzen Stadt verteilt. Die wilden aus dem Sumpf – mit Jungstar Anthony Allard. Zeppelin unter Feuer – ein Film mit Anthony Allard. Da kann sogar jemand wie ich eins und eins zusammenzählen, wenn der Boss kommt und sagt: sein kleiner Zuchthase wird zu gierig, der muss weg. Und dann dachte ich mir, Cheesecake, altes Haus, Allard, Allard, der Name sagt dir doch was. War das nicht damals der stadtbekannte Rasiersalon, zu dem du immer gegangen bist? Also bevor du ihn für den Boss zusammengeballert hast? Weil drinnen der Typ saß, den Herr von Hammerstein loswerden wollte?“ Cheesecake lachte aus vollem Hals heraus und stützte sich dabei mit einer Hand an einem Rasierstuhl ab. Anthonys Magen verkrampfte sich. „Sowas kannst du dir nicht ausdenken. Ganz großes Kino. Sieh’s als Gefallen an.“
Der alte Gangster zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Du wirst da ins Gras beißen, wo dein Erschaffer den Löffel abgegeben hat.“
Dann drückte er ab.
Klick.
Cheesecake riss am Bolzen, doch nichts passierte. Bevor er auch nur einen weiteren Handgriff tätigen konnte, war Anthony bei ihm. Der Gangster spürte einen brennenden Stich an seinem Hals und sprang instinktiv einen Satz nach hinten, dann riss er das Magazin aus der Waffe und sah erschrocken von unten hinein. Tabakholz.
„Weißt du, Cheesecake.“, raunte der junge Schauspieler, während er langsam auf den alten Gangster zu ging. „Du glaubst nicht, wie dankbar ich dir bin.“
Etwas kitzelte den Lakaien am Schlüsselbein und er wischte mit dem Magazin flüchtig darüber. Seine Finger fanden eine warme, klebrige Nässe, die ihn überraschte. Als er an sich heruntersah, bemerkte er die satte, rote Farbe, die sich im Bereich des Kragens über sein Hemd verteilte und auch das pulsierende Spritzen, das mit jedem seiner Herzschläge aus seinem Hals hervordrang. Ihm wurde schwindelig und er musste sich festhalten. Sein Schuh rutschte auf etwas schlüpfrigem aus und er verlor das Gleichgewicht, prallte gegen einen Stuhl und riss ihn mit sich. Das Trommelmagazin entwand sich seinem Griff und rollte herrenlos über den Boden.
„Ich wäre nie auf die Idee gekommen, diesen Ort noch einmal zu besuchen. Aber nun sind wir hier. Der Anfang vom Ende findet dort statt, wo das Ende des Anfangs war. Fast poetisch.“ Anthony stoppte das Magazin mit dem Fuß und hob es ruhig auf. „Ich war bereit, Jahre auf eine Gelegenheit zu warten, doch euch beide auf einem Silbertablett – ich könnte weinen vor Freude.“
Der Gangster versuchte sich aufzurappeln, doch seine Kraft reichte kaum, den Kopf zu heben.
„Die hier brauchst du wohl nicht mehr“, sinnierte der Barbiersohn und nahm Cheesecake das Gewehr widerstandslos aus der Hand. „Oh, schau an. Etwas holzig die Sache.“
Der Gangster versuchte noch, etwas zu entgegnen, irgendetwas zu sagen, doch er schaffte es kaum, den Mund zu bewegen. Sein Blickfeld verengte sich und trübte ein. Durch die Schemen, die er erkennen konnte, sah er noch, wie die Gestalt vor ihm ein glänzendes Ding an seinem Körper abstreifte, dann umfing ihn die Gnade der Dunkelheit.
Harald von Hammerstein saß an seinem Klavier und genoss eine Zigarre, sowie einen weiteren Drink. Wie viele es heute bereits gewesen waren, konnte er nicht sagen, aber es waren einige gewesen. Dementsprechend unkoordiniert klimperte er auf dem Instrument herum, was ihn aber nicht störte. Alles, was er anpackte, wurde gut. Auch Musik. Außerdem musste das große Ärgernis, von dem er sich heute befreit hatte, gefeiert werden. Und zum Feiern gehörte für Harald von Hammerstein eben der eine oder andere Fusel und die Gesellschaft der einen oder anderen ambitionierten Nebenrolle.
Er griff glücklich und erleichtert in die Tasten und improvisierte ein dissonantes, furchtbares Stück, das durch die leeren Gänge und Räume hallte wie ein Geist. So hörte er auch nicht, wie sich langsam die Schiebetür zum Salon hinter ihm öffnete. Er hörte auch keine Schritte, die sich ihm langsam näherten und auch nicht die Stimme, die ihm leise einen einzigen Satz ins Ohr flüsterte:
Dieses Messer wird uns eines Tages reich machen.
Razorblade
Von der Rasur bis zum letzten Schnitt – das Rasiermesser begleitet Ihren Charakter durch jede Situation.